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Die Schlange ist dann eigentlich Gott

Das Journal von Amnesty International berichtet in seiner aktuellen Ausgabe, dass China seinen Überwachungsstaat ausweitet. Durch überall hängende Überwachungskameras und modernste Software, die Gesichter und Stimmen erkennen kann, entgeht nichts der kommunistischen Führung. Nicht angepasste Bürger müssen sich auf eine Verhaftung gefasst machen.

1989 wurde der Platz des Himmlischen Friedens durch Studenten besetzt, die durch einen öffentlichen Hungerstreik für Reformen protestierten. Die Bewegung fand schnell mehr und mehr Anhänger im Land, so dass sich die Regierung genötigt fühlte, etwas zu unternehmen:

Am Abend des 3. Juni ging das Militär mit Panzern und scharfer Munition gegen die Demonstrierenden vor und räumte so den Platz. Die Geschehnisse von damals sind bis heute ein Tabuthema: Dong Guangping, ein ehemaliger Polizist, der dazu aufrief, des Massakers zu gedenken, sitzt in Haft.

In China wird derzeit dafür ein neues System eingeführt: Schlechte Taten geben Minuspunkte, gute Pluspunkte. Das sogenannte Sozialkreditsystem wird dazu in 43 Kommunen beispielhaft erprobt. Jeder Einwohner bekommt dabei zu Beginn gleich viel Punkte. Wenn er etwas schlechtes macht, wie Müll auf der Straße liegen lassen, bekommt er Punkte abgezogen, hilft er dagegen seinem Nachbar, etwas zu reparieren, bekommt er Pluspunkte.

Falls ihr jetzt denkt, ich scherze gerade, nein.

Übrigens ist dieses System nur eine konsequente Weiterführung des Kommunismus, der schon immer der Ansicht war, im Sinne der Menschen zu handeln, wenn er diese zu wünschenswertem Verhalten zwingt.

Die Partei weiß eben besser als du selbst, was gut für dich und alle ist.

Für mich ist das der springende Punkt, der alle kommunistischen Systeme menschenverachtend gemacht hat und macht. Durch Zuckerbrot und Peitsche soll der Mensch dazu gebracht werden, ein besserer Mensch zu werden. Mit Freiheit, Selbstbestimmung, eigener Meinung und Individualismus ist da nichts.

Was hat das alles mit der Schlange, Gott und dem Garten Eden zu tun?

Ganz einfach:

Die Schöpfungsgeschichte, und damit die ganze Bibel, beginnt auf eine beunruhigende Weise. Da sind Götter (ja, im Hebräischen steht da Plural), die erschaffen die Welt und den Menschen. Dann setzen sie den Menschen in den Garten Eden, pflanzen zwei interessante Bäume mitten hinein, den Baum des Lebens und der Erkenntnis und sagen zu ihm: Von diesem einen Baum, dem Baum der Erkenntnis, darfst du nicht essen, sonst bist du tot.

Ihr wisst, wie die Geschichte weitergeht: Die Schlange bringt Eva dazu, doch von dem Baum zu essen. Und weder Adam noch Eva sterben. Die Götter haben also gelogen. Die Schlange aber hat die Wahrheit gesagt: Sobald ihr davon esst, werdet ihr wissen, was gut und böse ist. Genau das tritt ein. Sterben tun die Menschen erst später und warum? Weil die Götter sie aus dem Garten Eden vertreiben und die Menschen nicht mehr von den Früchten des Baumes des Lebens essen können.

Jedem, der diese Geschichte aufmerksam und kritisch liest, fällt auf, dass das Gottesbild nicht nur menschlich ist, sondern dieser Mensch „Gott“ alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse:

Er setzt dem Mensch einen Baum vor die Nase und sagt dann, haha, der ist nichts für dich. Vor diesem Gott verstecken geht auch nicht, denn der Garten ist offensichtlich so klein gehalten, dass man sich zwangsläufig über den Weg läuft. Dann nimmt Gott die Menschen in Verhör und erteilt ihnen eine angemessene Strafe: Schmerzen für die Frau, Mühsal für den Mann und Vertreibung aus der Heimat.

Der ehemalige Pastor, Psychotherapeut und integrale Theologe Bruce Sanguin legt eine mutige und integrale Deutung dieser Geschichte vor:

Über die letzten 30 Jahre hinweg habe ich versucht die Geschichte des ersten Paares als eine Wiederspiegelung einer zeitlosen Weisheit auszugleichen. Ich habe Allegorien, Metaphern und mystische Interpretationen verwendet. Aber als ich aufgegeben habe, sie auszugleichen und sie einfach einen Ausdruck der Weltsicht sein ließ, aus der heraus sie geschrieben wurde, tauchte eine neue und weit organischere Interpretation auf.

The Way of the Wind. The Path and Practice of Evolutionary Mysticism, S. 156, eigene Übersetzung

Die Geschichte sei von den Repräsentanten der traditionellen Weltsicht geschrieben worden, deren wichtigstes Anliegen darin bestand, die bestehende Ordnung zu wahren. Dazu leitete diese Geschichte dazu an, Gott – und in Folge anderen externen Autoritäten – Gehorsam zu leisten, sich an die Gesetze zu halten und die feststehende Ordnung nicht zu hinterfragen. Die Angst vor dem Tod oder der Bestrafung ist bestimmendes Handlungsmotiv.

Vielleicht wird an dieser Stelle schon deutlich, was diese Geschichte mit oben genanntem Beispiel aus China zu tun haben könnte.

Eva will die Frucht nicht einfach deshalb nicht essen, weil Gott und ihr Mann ihr gesagt haben, dass es böse ist. Sie will selbst wissen, was gut und böse ist, von innen heraus, aus ihrem eigenen Gewissen. Und das ist gefährliche Konkurrenz für den, der es angeblich besser weiß.

Hätte Eva die Frucht nicht gegessen, dann leben Eva und Adam noch heute zufrieden im vermeintlichen Paradies. Es gebe genug zu essen und für Unterhaltung würde der liebe Gott sicherlich auch sorgen. Über ihr Verhalten müsste sie sich auch nicht den Kopf zerbrechen. Warum wollte sie unbedingt von dieser Frucht essen?

Sie wollte mehr vom Leben. Sie wollte das echte Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen. Sie wollte erwachsen werden. Selber denken lernen. Eigene Erfahrungen sammeln.

Für Bruce Sanguin ist der Mythos in erster Linie eine Projektion der Ängste einer traditionellen Weltsicht: Vor dem Wilden, dem Weiblichen, dem Natürlichen und der tiefen Sehnsucht des Menschen nach „Mehr.“

Die Schlange ist dann, in meiner Interpretation, eigentlich Gott, der subversive, kreative Impuls sich von der herrschenden Kultur zu unterscheiden, metaphorisch dem Garten unserer unbewussten Identifikation mit der vorherrschenden Weltsicht.

Sanguin, a.a.O., S. 162f.

Auch Jesus war ein friedlicher Reformer. Oder hätte es werden können. Wenn die Machthaber ihn nicht hingerichtet hätten. Die Machthaber haben immer ein Interesse am Status quo und Angst vor subversiven Elementen.

Hier könnt ihr euch für Dong Guangping einsetzen:

https://www.amnesty.de/mitmachen/brief-gegen-das-vergessen/dong-guangping-0

Quelle: Amnesty Journal 03/2019

Bild: Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies von Michelangelo (um 1512) in der Sixtinischen Kapelle

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