Braucht Integrales Christsein überhaupt noch Gemeinde – und wenn ja, was für eine??

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Gastartikel von Ingrid Schneider

In nicht allzu ferner Zukunft werden die Christen in Deutschland weniger als 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Eine Veränderung, die sich vorhergehende Generationen nicht in ihren kühnsten Träumen oder besser Alpträumen ausgemalt haben. Zu geprägt war unsere Kultur durch die christlichen Tradition. Und auch wenn Philosophen wie Friedrich Nietzsche schon vor mehr als 100 Jahren Religion in Frage stellten, ein Deutschland ohne das Christentum war nicht denkbar.

Dieser Rückgang an Zugehörigkeit zu Kirche geht einher mit einer sich ständig wandelnden Wertelandschaft in diesem Land. Und mit diesen sich verändernden Werten hat auch das, was Menschen von Gemeinde oder Glaube erwarten oder hoffen, sehr unterschiedliche Bedeutungen bekommen.

Integrales Christsein ist eine der jüngsten „Spielarten“, welche es in diesem Kontext gibt. Eine Form des Christ-Seins, bei dem die Entwicklung einer Spiritualität von Morgen breiten Raum einnimmt. Was aber heißt das für das Leben einer Gemeinde oder einer Gemeinschaft?

Glaube ist immer auch ein Glaube in Beziehung: Beziehung zu einer schöpferischen Kraft einerseits, aber auch Beziehung zu anderen Menschen andererseits. Darum braucht auch integrales Christsein einen Rahmen von Beziehung, der Austausch, Kommunikation und auch gegenseitige Befruchtung möglich macht. Sicherlich ist solches in unserer modernen Zeit auch in digitaler Weise möglich. Doch die Bewährungsprobe entsteht dann, wenn wir uns mit Menschen in einer Gemeinschaft wiederfinden, welche vielleicht ganz andere Präferenzen setzen als wir selber. Und denen dennoch, so wie im integralen Christsein, das Thema der Spiritualität ein wichtiges Anliegen ist. Bewährungsprobe deshalb, weil sich in einem solchen Kontext zeigt, ob wir in der Lage sind, wirklich integral zu leben, oder ob es uns um kleine Teilbereiche des Glaubens geht, welche wir attraktiv finden.

Integral leben – wenn wir von der integralen Theorie her diesen Begriff füllen, so verbinden wir mit dem Begriff „integral“ eine Bewusstseinsstufe, welche in den Farbcodierungen von „Spiral Dynamics“ mit gelb gekennzeichnet ist. Es ist eine Bewusstseinsstufe, die in der Lage ist, all die vorhergehenden in sich zu integrieren und adäquat je nach Situation auch ein solches Handeln zu aktivieren.

Für ein Leben in einer solchen Gemeinschaft würde das bedeuten, dass die dazu gehörenden Menschen in einer Beziehung zueinander stehen, welche Halt und Sicherheit vermittelt, in der aber auch Tradition und Ritual einen Raum haben. Verlässliche Regeln, das Wissen um das Angebunden-Sein an eine göttliche Quelle und ein von Herzen kommendes Begegnen auf Augenhöhe prägen das Miteinander. Gleichzeitig haben Menschen Raum zur persönlichen Entfaltung, können ihr kreatives Potential einbringen und werden ermutigt, immer wieder Neues auszuprobieren.

Ziel der Gemeinschaft ist es, den Menschen in ihrer je spezifischen Lebenssituation durch eine stärkende Spiritualität Raum für Entwicklung und Entfaltung, aber auch Veränderung und Neubeginn zu ermöglichen, um so die jeweils besten und stimmigsten Antworten auf die Herausforderungen des Lebens zu finden. Nicht weniger müsste eine Gemeinde oder Gemeinschaft leisten, wenn sie integrales Christsein in ihrer Mitte ermöglichen will.

Nur so würde möglich sein, was Tom Thresher als Kennzeichen einer integralen Kirche beschreibt: einen Rahmen bilden für persönliche und kollektive spirituelle Entwicklung. Ein Rahmen also, der es nicht nur einzelnen Menschen erlaubt, spirituell zu wachsen, sondern auch dem System erlaubt, sich kontinuierlich anzupassen an neue Rahmenbedingungen. Also ein System sein, das veränderlich in sich und den Strukturen ist.

Was heißt das für mögliche Gemeindeformen, die ggfs in Zukunft entstehen?

  1. Das Thema der persönlichen und spirituellen Entwicklung der Menschen muss das zentrale Thema einer solchen Gemeinde sein. Immer und immer wieder wird sich die Gemeinde fragen lassen müssen, ob sie in ihrer Gestalt den Menschen die Möglichkeiten bietet, die Potentiale zu aktivieren, die sie zur Bewältigung des Lebens brauchen. Und ob sie offen ist dafür, neue Erfahrungen machen zu können. Sie wird Anregungen geben müssen für das innere Wachsen als Mensch und das innere Wachsen im Glauben. Bezogen auf das Thema des Glaubens läuft es in diesem gemeindlichen Kontext darauf hin zu entdecken, wo und wie wir Gottes Gegenwart im Alltag als stärkende Kraft entdecken.
  2. Entgegen dem Trend, Gemeinden in immer größeren Organisationsformen zusammenzufügen, werden integrale Gemeinden davon leben, dass es viele kleine, überschaubare Einheiten gibt, in denen Menschen miteinander in Kontakt sind. Diese kleinen Gruppen bilden so etwas wie Keimzellen für das Wachstum, aber auch für die Aufgaben, die sich in einer Gemeinde stellen. Jede Einheit zeichnet sich durch einen besonderen Schwerpunkt aus, z.B. Seelsorge für- und aneinander oder diakonisches Handeln. Und jeweils einzelne aus der Gruppe übernehmen Verantwortung für einen begrenzten Zeitraum für einen kleinen Bereich. So kommt es dazu, dass Leitungsaufgaben immer wieder von anderen Menschen wahrgenommen werden und damit eine Art der Leitungsweitergabe entsteht, die fördernd und fordernd die Menschen in die Pflicht nimmt, aber auch Raum zur Entfaltung bietet, niemals aber überfordert. Anders als dieses vielfach heute der Fall ist, sind nicht Pfarrerinnen oder Pfarrer diejenigen, die das Gemeindeleben prägen. Vielmehr ist die Gemeinschaft der Menschen vor Ort Träger der gemeindlichen Aktivitäten. Jede Gemeinschaft, so begrenzt ihr Handeln vielleicht auch ist, ist in sich eigenständig. Und dennoch ist sie Teil eines großen Ganzen und bringt durch ihr Handeln etwas von dem zum Ausdruck, worum es insgesamt geht.
  3. Zusammengehalten werden mehrere dieser kleinen überschaubaren „Vor-Ort-Gemeinden“, welche durchaus in sich sehr eigene Schwerpunkte haben können, durch ein unterstützendes System. Diesem regionalen unterstützenden System wird die Aufgabe zukommen müssen, die kleinen Gemeinden zu stärken bei Aufgaben, welche die eigenen Kräfte übersteigen. So wäre denkbar, dass z.B. das Thema des Erhalts von Kirchen als Orten der spirituellen Sammlung zu den Aufgaben des unterstützenden Systems gehört. Aber auch z.B. das Angebot von Fortbildungen zum persönlichen oder spirituellen Wachstum. In jedem Falle kann es immer nur um eine stärkende Funktion gehen, nicht darum zu kontrollieren oder alles in eine einheitliche Linie zu zwingen. Dieses würde dem Prinzip des gelben Wertemusters von Flexibilität und Funktionalität zuwider laufen.
  4. Um solches zu ermöglichen braucht eine solche Gemeinde kompetente Ansprechpersonen in der Region, welche in ihrer Persönlichkeit reife Menschen sind und in ihrem jeweiligen Bereich über fachliche Kompetenzen verfügen. Bezogen auf das Thema der persönlichen und spirituellen Entwicklung heißt das
    einen Erfahrungsvorsprung in den Fragen der Entwicklung der Persönlichkeit und des Glaubens haben und
    b. auch in der Lage sind, Menschen auf einem solchen Weg zu begleiten.
    Meiner Erfahrung nach wird es darauf hinauslaufen müssen, dass Menschen, die Leitungspositionen zumindest im unterstützenden System wahrnehmen, über Qualifikationen in dieser Hinsicht verfügen müssen. Letztlich wären in diesem Sinne auch die Aufgaben von Pfarrerinnen und Pfarrern zu verstehen. Sie werden im klassisch biblischen Sinne wieder zu Hirten, welche den Raum halten für das Leben und die Menschen zu den „Wasserstellen“ bringen, welche gut tun. Ohne eigene Erfahrung, die sie diesbezüglich auch vermitteln können (sprachfähig sein), dürfte das schwerlich gelingen.
  5. Im Idealfall strahlen solche „Vor-Ort-Gemeinden“ in den Lebensraum aus und tragen ihren Teil zum Leben der Menschen im Dorf, im Stadtteil, im Quartier bei. Sie werden erkannt als eine Quelle von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, aber auch Sinnstiftung und Stärkung.

 

Im Kontext des integralen Denkansatzes brauchen wir solche neuen Formen von Gemeinde., denn sie vervollständigen Teile der integralen Gesamtschau. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass jede Sache vier Wahrnehmungszugänge hat: die individuelle-innerliche; die kollektive-innerliche, die individuelle-sich zeigende; die kollektive-sich zeigende.

Sichtbare Formen von Gemeinde bringen damit die kollektive- sich nach außen zeigende Seite des Ganzen in greifbare Strukturen und Formen. Und in ihr haben die Menschen die Möglichkeit, sich mit ihren Fähigkeiten ebenso zu zeigen.

Idealerweise sind solche Gemeinden durch die Art, wie sie existieren und agieren ein „Förderband für Entwicklung“ in der Gesellschaft. Ken Wilber, von dem dieser Begriff stammt, versteht darunter die Möglichkeit, dass Menschen in solchen Gemeinschaften angeregt werden, die aufeinander folgenden Werteebenen zu durchschreiten und hierbei Erfahrungen zu sammeln für sehr unterschiedliche Lebenskontexte. Solche Erfahrungen aber sind nur in realen Lebensbezügen möglich und brauchen mehr als nur virtuelle Gemeinschaften.

Mein Eindruck: Integrales Christsein ist eine große Chance für alle, die auf dem Weg sind des persönlichen und spirituellen Wachstums. Doch es braucht auch Gemeinschaften, die auf diesem Wege stärken und fördern, die zugleich aber auch quasi als Stresstest zeigen, ob das, was wir leben, diesem eigenen Anspruch genügt.

Für Kirche und Gemeinde in Deutschland bedeutet es allerdings eine große Veränderung der bisherigen Gewohnheiten und des eigenen Selbstverständnisses, wollen sie einen Raum schaffen, der integrales Christsein ermöglicht.

 

Gast-Autorin: Ingrid Schneider, Pfarrerin, Coach, integrale Organisationsentwicklerin,

Coach für Spirituelle Intelligenz, www.spirituelle-intelligenz-21.de

Ingrid Schneider

Titelbild Foto von Kamboompics.com, Pexels
Foto Ingrid Schneider, Privatarchiv

 

 

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